Das Spannungsfeld Integrität und Kooperation

Integrität und Kooperation: „Mir zuliebe“ trifft „Dir zuliebe“

Jeden Moment in unserem Leben treffen wir Entscheidungen. Beim Entscheiden lassen wir uns dabei von verschiedenen Spannungsfeldern leiden.
Das Spannungsfeld, welches am häufigsten unsere Entscheidungen beeinflusst, ist das Spannungsfeld zwischen unserer eigenen Integrität und der Kooperation mit der Umwelt, oder kurz und vereinfacht ausgedrückt „Mir zuliebe“ und „Dir zuliebe“.
Jesper Juul beschreibt Integrität als ein „Gefühl von Ganzheit und Verbindung zwischen innerer und äußerlicher Verantwortlichkeit“1. Was jedoch meint er damit?
Meine Integrität bedeutet alles, was ich brauche, um für mich in Balance zu sein. Um mich wohlzufühlen in meiner Haut und mich ganz und gar verbunden mit mir selbst zu fühlen. Dieser Zustand ist quasi mein innerer „Ort“, an dem ich merke, was ich brauche und was mir jetzt wichtig ist. Welche Bedürfnisse ich gerade habe und was mich so erfüllt, dass es mir gut geht. Mehr dazu später.
Kooperation, das „Dir zuliebe“, bezeichnet unsere Fähigkeit, uns anzupassen an unsere Umwelt. Dinge für andere zu tun, uns auch zurückzustellen z.B. zum Wohle des Ganzen, etc.
Grundsätzlich kooperieren wir Menschen sehr gerne. Wir sind soziale Wesen und brauchen einander.
Wir machen gerne Dinge für andere und bekommen dadurch natürlich auch Rückfluss in Form von Anerkennung und Wertschätzung beispielsweise.

Wir kooperieren gerne bis, ja, bis es uns reicht. Bis wir merken, nun brauchen wir etwas für uns selbst, um uns weiterhin oder wieder wohlzufühlen.
Das ist der Moment, in dem unsere Integrität wichtig wird, unsere „innere Stimme“ sagt: Stopp, genug kooperiert, du willst doch jetzt etwas anderes!“.
Ein Beispiel aus der „Paarbeziehungswelt“:
Michael und Kerstin verlieben sich. Sie haben sich gerade kennengelernt und gefallen aneinander. Nun beginnt eine Phase intensiver Kooperation. Beide bemühen sich um den anderen, geben sich dem anderen hin, tun vieles dem anderen zuliebe und erfreuen sich an den Geschenken, die durch die Kooperation jeweils gemacht werden.
Wenn Michael Kerstin beispielsweise fragt, ob sie mit ihm ins Kino gehen will, geht sie gerne mit. Schließlich mag sie gerne Zeit mit ihm verbringen. Der Film ist eher Nebensache, Hauptsache man unternimmt etwas gemeinsam… Schließlich mag sie ja Michael gerne kennenlernen.
Diese Zeit der intensiven Kooperation geht naturgemäß irgendwann zu Ende – so wie das „frisch Verliebtsein“ ja auch Platz macht für etwas anderes.
Nach einigen Wochen fragt Michael Kerstin wieder einmal, ob sie mit ihm ins Kino gehen mag. Kerstin merkt aber, dass sie nicht mag. Gedanken wie „ich mag nicht schon wieder einen Actionfilm sehen“ oder „ich hab genug von Laserschwertern und Raumschiffen“ signalisieren ihr deutlich, dass sie heute keine Lust auf Kooperation hat. Hier meldet sich ihre eigene Integrität zu Wort und erinnert sie daran, dass sie auch etwas „für sich“ braucht. Vielleicht merkt sie, dass ihr mehr nach einem heißen Bad in Ruhe, nach einem Treffen mit ihrer Freundin oder nach einfach nur Zeit für sich haben ist.
Nun ist die Frage, ob sie dies Michael auch so sagen kann. Oder denkt sie vielleicht: „Wenn ich ihm das sage, dann wird er enttäuscht sein. Aber ich liebe ihn doch und möchte nicht, dass es ihm schlecht geht wegen mir.“
Angenommen, sie entscheidet sich, ihm nicht zu sagen, dass sie heute eigentlich lieber Zeit für sich hätte und geht mit ihm ins Kino – obwohl sie eigentlich gar nicht will. Dann tritt sie selbst über ihre eigene Integritätsgrenze und „missbraucht“ sich selbst. Dies hat Folgen. Es löst ein Gefühl von Fremdbestimmung in ihr aus und es entsteht Aggression2. Diese muss sie nun irgendwohin richten.
Das kann dazu führen, dass sie aus scheinbar heiterem Himmel einen Streit mit Michael vom Zaun bricht, damit die Aggression ein Ventil findet. Oder aber sie versucht, dieses Gefühl zu unterdrücken. Dadurch verschwindet es aber nicht, sondern sammelt sich im Körper an. Geschieht dies nun wieder und wieder, dass sie über ihre eigene Grenze hinweg kooperiert, weil sie meint, sie müsste mitmachen – dann füllt sich der „Pott“3 in ihrem Innern mit immer mehr Aggression. Irgendwann, bei einem scheinbar unwichtigen Anlass, wird Michael vielleicht etwas zu ihr sagen, woraufhin sie explodiert und die ganze gesammelte Aggression gegen Michael richtet. Der Arme weiß gar nicht, wie ihm geschieht, denn es waren ja ihre inneren Prozesse der Selbstunterdrückung, die sie zur Kooperation gegen sich selbst gebracht haben – er hat damit nicht das Geringste zu tun. Dementsprechend sieht er sich mit einer extrem wütenden Kerstin konfrontiert und weiß gar nicht, wie er dem begegnen soll.
Angenommen, Kerstin entscheidet sich, ihrer Integrität zu folgen und zu Michael zu sagen: „Michael ich möchte heute nicht mit dir ins Kino. Ich möchte heute etwas für mich machen“. Damit würde sie ihrem inneren Gefühl entsprechend handeln und sich selbst treu bleiben.
Wie aber reagiert Michael wohl darauf?
Drei übliche Reaktionsmuster, wenn unser Gegenüber nicht kooperieren mag, sind typisch:
1. Unverständnis
„Wie du willst nicht mit ins Kino, du bist aber doch sonst immer gerne mit? Hab ich was falsch gemacht? Liebst du mich vielleicht nicht mehr, brauchen wir eine Therapie? Gibt es einen anderen? Was hab ich dir denn getan?“
2. Bestechung
„Schatz, ich weiß, dir hat das Kleid im Laden X so gut gefallen… Wenn du heute mit ins Kino gehst, fahr ich morgen nach der Arbeit gleich bei dem vorbei und….“
3. Erpressung
„Wenn du mich liebst, dann gehst du mit mir ins Kino. Liebe bedeutet für mich, mit dem anderen ins Kino zu gehen“4

Alle drei Strategien versuchen, den anderen zur Kooperation zu bewegen, ihn dazu zu bringen, doch mit und für uns etwas zu tun, damit es uns besser geht.
Lässt sich Kerstin nun überreden oder „zwingen entsteht das Gefühl von Aggression ähnlich, wie wenn sie sich selbst gegen den Ruf ihrer Integrität entscheidet. Allerdings jetzt gleich gerichtet auf Michael. Dies kann zu einem dramatischen Abend führen, mit Streit und Wut und allem, was man sich gegenseitig vorwerfen mag. Alternativ schluckt sie alles hinunter, bis es zu viel ist, es dann plötzlich aus ihr herausbricht oder sie durch die permanente Unterdrückung krank wird.
Was jedoch bräuchte Kerstin wirklich von ihrem Freund?
Sein Verständnis ihrer Befindlichkeit. In dem Moment, in dem Michael ihr signalisiert, dass er den Wunsch ihrer Integrität respektiert, kann Kerstin sich entspannen und wieder von sich aus auf ihn zugehen, denn ihre Wünsche wurden gesehen und wahrgenommen. Es kann sogar sein, dass sie sich zwei Minuten später umentscheidet und sagt „Warte Liebling, ich möchte doch mit ins Kino“. Dies, weil sie es aus sich und aus dem Gesehen werden heraus frei entscheidet – nicht, weil es von ihr verlangt und eingefordert wird.
In dem Moment, in dem der andere uns „sieht“, können wir wieder auf ihn zugehen.
Was aber hat das mit Kinder“erziehung“zu tun?

Kinder kooperieren auch gerne und immer mit ihren Eltern. Weniger mit dem, was die Eltern sagen, als vielmehr mit dem, was die Eltern ausstrahlen (an unbewussten Erwartungen, Meinungen, Gefühlen und Emotionen)
Wenn zum Beispiel die Mutter der Erzieherin in der KITA ihr Leid klagt:
„Mein Kind kann mich einfach nicht loslassen. Jeden Tag macht es an der Kindergartentür ein Riesentheater und schreit und jammert nach mir. Ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Mein Kind scheint ohne mich nicht klarzukommen.“ Dann kann es gut sein, dass das eigentliche Problem die Mutter hat, nicht das Kind. Sie möchte ihr Kind am liebsten gar nicht loslassen und braucht vielleicht die permanente Bestätigung, unersetzlich für das Kind zu sein. Das Kind kooperiert mit dieser Einstellung der Mutter und fabriziert ein astreines Theater, um der Mutter „Recht“ zu geben. So bestätigt es die innere Einstellung der Mutter.
Aber auch Kinder haben in ihrer Kooperation Grenzen und zeigen irgendwann deutlich ihre eigene Integrität. Wir nennen das dann gerne „Trotzphase“ oder „Pubertät“ oder diagnostizieren Verhaltensproblematiken. Dabei möchte das Kind nur sein Eigenes ausdrücken und „gesehen“ wissen.
Nun denken sie an die oben beschriebenen Reaktionsmuster. Wer von uns hat noch nie eines dieser Muster im Umgang mit seinen Kindern gezeigt?
Und dem Kind geht es ähnlich wie Kerstin in unserem Paarbeispiel.
Es möchte in seiner Selbstäusserung gesehen und wahrgenommen werden. Dann kann es auch sofort wieder in Kooperation treten.
Viel zu oft aber unterdrücken wir als Erwachsene die Selbstäußerung des Kindes und erklären sie weg („Du brauchst doch keine Angst zu haben, so etwas gibt es gar nicht“) oder verlangen Kooperation, weil wir unsere Erziehungswerte für absolut halten.
Zeigen wir nun eines der oben erwähnten Muster, so löst das beim Kind auch das Gefühl von Aggression aus. Das Kind, welches aber gerade erst auf dem Weg ist scih selbst zu finden, kann mit diesem Gefühl womöglich noch gar nicht umgehen bzw es richtig zuordnen. Es erlebt die Versuche der Eltern es zur Kooperation zu zwingen als „ich möchte so, aber meine Eltern signalisieren mir deutlich dass das, was ich will falsch ist und ihres richtig. Ich scheine also falsch zu sein“ Das ergebnis dieses Prozesses kann ein defizitärer Selbstwert sein (s.u.), das Kind verleirt das Vertrauen zu sich selbst, das Gefühl, dass es „richtig“ ist in seinem Gefühlserleben und seinen Bedürfnissen.
Dabei wäre es so einfach. Wir bräuchten in vielen Fällen dem Kind nur zeigen, dass wir es in seinen Wünschen und Bedürfnissen wahrnehmen und dann sagen, „wo wir stehen“.
Das Kind wahrzunehmen heißt im Übrigen nicht, dem Kind alle Wünsche zu erfüllen. Wahrnehmen heißt wahrnehmen und nicht mehr. Wir sind nicht die „Befehlsempfänger“ des Kindes5.
Stellen sie sich vor, der Vater sagt zu seiner Tochter: „Ich will, dass du den Müll runterbringst“. Diese nimmt ihre eigene Integrität wahr und antwortet „Neeeee, Müll runterbringen ist eklig!“ Eine mögliche Reaktion des Vaters wäre, wütend zu werden und das Kind anzuschreien „Du machst gefälligst, was ich sage! Wo kommen wir denn hin, wenn jeder macht, was er will. Ich kann auf meiner Arbeit auch nicht einfach nur machen, was ich mag… Solang du deine Füße unter meinen Tisch stellst,… Wir sind eine Familie hier muss jeder seinen Teil beitragen!“ Dies würde die Tochter allerdings überhaupt nicht wahrnehmen. Genauso wenig würde ein „Natürlich musst du nichts machen, was du nicht willst, mein Schatz“ der Beziehung zuträglich sein, denn dann würde der Vater über sein eigenes Bedürfnis hinweggehen.
Das Kind wahrzunehmen, könnte in diesem Fall heißen: „Du magst den Müll nicht runterbringen?“ „Nein, der ist eklig und stinkt“ „Ja das kann ich verstehen, dass das eklig ist und du das nicht magst“ „Genau!“ „Aber weißt du was, du musst das nicht mögen, den Müll runterzubringen, du kannst den ganzen Weg runter schimpfen und es eklig finden. Trotzdem möchte ich, dass du den Müll jetzt runterbringst.“ „Jajajaja….“
Gewiss, das klingt etwas konstruiert, aber hier wird deutlich, was ich meine. Der Vater macht das Gefühl des Kindes nicht weg, sondern er akzeptiert das als Äußerung des Kindes, nimmt dessen Integrität wahr und sagt dann, was er von dem Kind möchte.
So erfährt das Kind sich in seinen Gefühlen nicht als falsch. Es darf fühlen was es möchte. Trotzdem äussert der Vater deutlich sein Bedürfnis und gibt damit dem Kind auch klar ein Vorbild, wie er mit den unterschiedlichen Bedürfnissen in der Kommunikation umgeht.
Manchmal scheint unsere Umwelt also eine Kooperation zu verlangen, die unsere Integrität massiv beeinflusst. Und je nachdem wie wir gelernt und erfahren haben zu unserer eigenen Integrität zu stehen, reagieren wir angepasst oder „rebellisch“. Richten uns nach dem „dir zuliebe“ oder dem „mir zuliebe“.